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Achtsamkeit und Bindungstrauma

Ich habe bereits einen Blogbeitrag über die positiven Effekte der Achtsamkeitsübung verfasst. Heute möchte ich einen Lichtkegel darauf werfen, worauf zu achten ist, wenn die eigene Vergangenheit viele schmerzhafte Beziehungserfahrungen beinhaltet.

Gerade die älteren Jahrgänge unter uns, aber auch jüngere sind möglicherweise mit Erfahrungen in der frühen Kindheit konfrontiert worden, die sie massiv überfordert haben.


Kurzer Exkurs: Dass Bindung ein angeborenes Bedürfnis ist, das befriedigt werden will, wissen heute wahrscheinlich viele. Dennoch hat sich das Wissen der Bindungstheorie, die in den späten 50er Jahren des letzten Jahrhunderts durch John Bowlby begründet wurde, erst nach und nach aus der Wissenschaft in ein Alltagsverständnis hinein entwickelt. (Die ursprüngliche Theorie von Bowlby ist heute noch Grundlage vieler weiterführender Theorien.) Dass ein ausreichendes Maß an Feingefühl beim Erkennen der Bedürfnisse eines Kindes in den ersten Lebensmonaten förderlich für eine positive Entwicklung ist, negieren heute wohl die wenigsten. Die Umsetzung dieser allgemein positiv aufgenommenen Erkenntnis, ist allerdings auch von der eigenen Bindungsgeschichte abhängig. Zusätzlich ist die Psychologie als Wissenschaft im Vergleich mit anderen sehr jung und betrachtet man diese kurzen Wissenschaftszeiträume und den damit verbundenen raschen Wandel und Zugewinn von Erkenntnissen, wird klar, dass der verzögerte Transfer in unseren Alltag keine leichte Übung ist.


Gerade, wenn durch unterschiedlichste Umstände vor der Geburt, während der Geburt und in den ersten Monaten bzw. Jahren nach der Geburt großer Stress erlebt wurde, kann das entscheidend dafür sein, wie sehr wir überhaupt in der Lage sind gegenwärtige Präsenz, wie sie in der Achtsamkeitspraxis vermittelt wird, zu erleben.

Koriphäen der Traumatherapie wie Michaela Huber und Luise Reddemann sprechen von einer transgenerationalen Weitergabe von Kriegstraumata.


Reddemann erklärt was passiert, wenn eine Mutter, die das Geschrei des Kindes aufgrund ihrer eigenen Traumatisierung nicht aushält tut. Sie bricht den Blickkontakt, und damit den Kontakt zum Baby ab, was das Baby in große Not bringt. Die Mutter ist nicht präsent, weil sie sich ausklinkt oder innerlich weggeht. Eine weitere Form der Weitergabe erfolgt über eine Überängstlichkeit, die zu einer Überbehütung führt, die verhindert, dass das Kind eigenständig und mutig die Welt entdeckt. Eine dritte Form ist das ständige Reden über den Krieg, das Kinder im Kleinkindalter so auffassen als beträfe es ihre Wirklichkeit. Sie sind gedanklich noch nicht in der Lage die Erzählung von ihrer Wirklichkeit zu trennen. Das alles führt wiederum zu Problemen, an denen dann gearbeitet werden muss. Auch auf der genetischen Ebene wird das Trauma weitergereicht (gelernt bei Dr. Aigner im Schmerzcurriculum 2020). Das macht deutlich wie schwierig es für eine ganze Gesellschaft ist Kriege aufzuarbeiten.


Unglaublich aber wahr ist, dass man bis in die späten 80er Jahre hinein nicht anerkannte, dass Säuglinge Schmerz empfinden. Aufgrund dessen wurden Neugeborene bis dahin bei Operationen mit curareähnlichen Substanzen gelähmt ohne aber die Schmerzen zu betäuben. Erlebt wurde Panik und Schmerz gepaart mit einer absoluten Hilflosigkeit und Bewegungsunfähigkeit. Vor nicht allzu langer Zeit dachte man also, dass kleine Menschen bis zum Alter von 1 1/2 Jahren, da sie über kein explizites Gedächtnis (also zum Beispiel biografisches Gedächtnismaterial zu erinnern) verfügen, frühe Traumen nicht abspeichern könnten. (Heller und Lapierre, 2020)


Die Prämisse unter welcher beliebte spirituelle Lehrer wie zum Beispiel Eckhart Tolle arbeiten lautet: Nichts was uns in der Vergangenheit widerfahren ist, kann uns daran hindern voll und ganz im gegenwärtigen Moment präsent zu sein.

Das ist intuitiv ein sehr schöner und auch hilfreicher Ansatz, wenn man nichts Überwältigendes in frühen Beziehungen des Lebens erfahren hat. Wenn man aber gar nicht in der Lage ist im gegenwärtigen Moment zu bleiben, aufgrund einer frühen Überflutung und darauf folgenden gestörten Regulierung des Nervensystems, kann es nach Heller und Lapierre (2020) mitunter zu Retraumatisierungen kommen. Die Autoren sprechen sich in diesem Fall für eine Achtsamkeitspraxis aus, die sich der gestörten Balance im Nervensystem ebenso zuwendet wie den Identitätsproblemen, entstanden durch Identifizierungen (Glaubenssätzen über sich selbst).


Was sind die Schlussfolgerungen daraus?


Natürlich wird in Meditationsretreats darauf hingewiesen, dass für diese Erfahrung psychische Stabilität eine Voraussetzung ist. Die Krux ist wohl, dass es wahrscheinlich nicht selten vorkommt, dass in der vorher noch nie dagewesenen Erfahrung Dinge hochkommen, die dazu in der Lage sind eine Dysregulation im Nervensystem zu verstärken.


Achtsamkeit darf nicht instrumentalisiert werden als Tool und als Programm, das für jede/n in gleicher Weise anwendbar wäre. Es ist wichtig zu unterscheiden mit welcher Vorgeschichte ein Mensch im Leben steht und da kann es durchaus sein, dass Achtsamkeit nur für sehr kurze Momente möglich ist und keinesfalls als Übung praktiziert werden darf, die eine halbe Stunde oder länger dauert. Laut Reddemann verstößt dieses Vorgehen nach Programm gegen die menschliche Würde.


Literatur und Links:


Heller, L. & Lapierre, A. (2020). Entwicklungstrauma heilen. München: Kösel


Tolle, E. (2004). The Power of Now. Novato: New World Library



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