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Chronische Schmerzen sind komplex

Aktualisiert: 23. Nov. 2020

Teil 1


Während akuter Schmerz eine eindeutige Warnfunktion besitzt, hat chronischer Schmerz diese Warnfunktion verloren. Jeder Schmerz, unabhängig davon, ob akut oder chronisch, entsteht ausschließlich im Gehirn. Die Sensoren, die den Reiz an der Peripherie (zum Beispiel am Fuß, wenn wir auf eine Biene treten) registrieren, die sogenannten Nozizeptoren geben nur weiter, dass eine Gefährdung besteht. Das bekommen wir aber gar nicht mit, denn der Schmerz entsteht erst durch unsere Wahrnehmung im Gehirn. Schmerz kann aber ganz unabhängig von der sogenannten Nozizeption bestehen.

Ein Beispiel (Fisher et al. 1995, BMJ): Ein Mann wurde mit einem Nagel durch den Schuh in die Notaufnahme gebracht. Er litt unter starken Schmerzen und wurde mit Opioiden (Fentanyl) behandelt. Der Schmerz steigerte sich als man versuchte den Nagel zu bewegen. Nach Entfernen des Schuhs wurde deutlich, dass der Nagel zwischen zwei Zehen durchgegangen ist und gar keine Verletzung hervorgerufen hat. Der Mann hat durch den bloßen Anblick des Nagels durch den Schuh starke, reale Schmerzen entwickelt.

Aber warum werden Schmerzen so unterschiedlich wahrgenommen?

Heute herrscht in der Fachwelt Einigkeit darüber, dass Schmerz über ein Bio – Psycho – Soziales Modell erklärbar ist.

Lange Zeit dachte man (und in vielen Köpfen ist das noch vorhanden), dass Schmerz über ein Biomechanisches Konzept erklärbar wäre. In diesem Modell galt, dass Schmerz gleich Schaden ist. Dies führte zu populären Schmerzmythen, von welchen das schon der Erste war.


Weitere sind:

akuter Schmerz = chronischer Schmerz

Befund = Befinden

Schmerzzunahme ist Krankheitsverschlimmerung.

Es gibt „echte“ und „psychisch bedingte“ Schmerzen.

Schonung ist bei Schmerz notwendig und sinnvoll.

Schmerz wird immer schlimmer, solange man die Ursache nicht behandelt.

Schmerz kommt von schwerer körperlicher Arbeit.

Bei jungen Menschen sind Schmerzen unüblich.

Bei Schmerz und Übergewicht hilft Gewichtsreduktion.

Therapie heißt, dass es ständig besser wird.

Heutzutage muss niemand mehr Schmerzen haben, denn es gibt super Medikamente.

Was unterscheidet also akuten Schmerz von chronischem Schmerz?

Unlängst meinte ein Vortragender im Schmerzcurriculum die beiden dürften gar nicht denselben Namen tragen, denn sie sind grundsätzlich unterschiedlich. Wie schon erwähnt, hat akuter Schmerz eine Warnfunktion. Wir ziehen beispielsweise die Hand weg, wenn wir auf die heiße Herdplatte greifen. Sternbach (1963) beschrieb den Fall einer Frau, welche jung starb. Sie litt an Schmerzunempfindlichkeit. Das bedeutete, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend Unfälle hatte, die man normalerweise durch Schmerzempfindlichkeit vermeiden kann. Sie biss sich etwa beim Essen ein Stück Zunge ab oder setzte sich auf viel zu heiße Heizkörper. Sie starb mit 29 Jahren an den Auswirkungen der dauernden dysfunktionalen Belastung ihres Bewegungsapparats. Das führte zu Infektionen und Entzündungen von Haut, Knochen und Gelenken (Kröner–Herwig 2017).

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie wichtig die Warnfunktion sein kann, nämlich lebenserhaltend.

Akuter Schmerz ist also nur kurz anhaltend, seine Ursache (zum Beispiel eine Verletzung) ist bekannt und gut therapierbar. Die Intervention der Schonung und die vorübergehende analgetische Behandlung mit dem Ziel der Schmerzfreiheit, scheint angebracht.

Chronischer Schmerz dauert lang oder kommt immer wieder. Seine Ursache ist unbekannt oder vielschichtig und schlecht therapierbar. Er hat seine Warnfunktion verloren. Die Interventionen verlangen sehr viel Mitarbeit seitens der Patienten und Patientinnen. Es geht um den Abbau von schmerzunterstützenden Faktoren (emotionale, kognitive, soziale – hierzu komme ich später). Das Behandlungsziel besteht darin, besser mit dem Schmerz umzugehen, sowie eine Minderung des Schmerzes zu erreichen (Kröner-Herwig 2017).

Studienlage zum Mythos „Schmerz = Schaden“:

- Bandscheibenvorfälle finden sich bei 22 – 60% asymptomatischer Personen (Deyo 2002).

- Ab dem Alter von 60 Jahren zeigen nahezu 100% aller Personen im MRT Anzeichen degenerativer Veränderungen, unabhängig davon ob sie Schmerzen haben oder nicht (Cheung et al. 2009).

- Bei vier von fünf Pat. mit Rückenschmerzen findet sich keine spezifische Schmerzursache (Deyo 2002), 85% der Rückenschmerzen sind unspezifisch.

Bio – Psycho – Soziales Modell bei Schmerz

„Schmerz beinhaltet die komplexe und variable Interaktion biologischer (z.B. genetischer, biochemischer), psychologischer (z.B. Stimmung, Persönlichkeit, Verhalten) und sozialer Faktoren (z.B. kultureller, familiärer, sozioökonomischer, medizinischer Faktoren).“

(Mosley & Butler 2017)


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